20. Kapitel

 

Die Sonne drang zwischen dicken Ästen hindurch auf den Waldboden, und unheimliche Schatten tanzten auf dem schnell dahinratternden Karren. Nell tat der Rücken weh vom langen Aufrechtsitzen auf der Sitzbank, die keine Lehne besaß. Trotzdem war sie froh um die frische Luft hier vorne. Sie war Morag dankbar dafür, dass sie sich nach hinten zu den Kindern gesetzt hatte. Der Karren holperte über Schlaglöcher, und Nell wurde ordentlich durchgeschüttelt. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Mikhail, der neben ihr saß und die Zügel lose in der Hand hielt. Wäre da nicht sein grimmig zusammengepresster Mund gewesen, man hätte fast glauben können, er mache eine Spazierfahrt, so locker und entspannt saß er auf dem Kutschbock.

Warum sagte er nichts? Nell rutschte unruhig hin und her. Er hatte kein Wort gesagt, kein Einziges. Nichts mehr, seit er ihr diese ominöse Frage gestellt hatte: »Dieser Lampion hätte George und Lizzie verbrannt, oder?«

Und sie hatte ja gesagt! Beim Barte des Salomon, warum hatte sie nicht nein gesagt? Ein kleines Wörtchen und alles wäre anders gewesen. Aber wahrscheinlich glaubte er ihr sowieso nicht. Oder hielt sie für geistesgestört. Oder er glaubte ihr doch ... O Gott, was hatte sie nur getan?

Sie schluckte den Kloß herunter, der ihr im Hals saß, und fragte »Wohin fahren wir?«

Mikhail schaute sie nicht an, ja schien es nicht der Mühe wert zu befinden, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Undankbarer, grober Kerl! Es war doch nicht ihre Schuld, dass sie mit diesem Fluch behaftet war! Es war nicht ihre Schuld, dass sie hier draußen waren und von wer weiß wem verfolgt wurden! Eigentlich eine Frechheit, dass er sie so einfach links liegen ließ! Selbst wenn er möglicherweise ein bisschen unter Schock stand ... Aber sie war doch diejenige, die völlig unschuldig in diesen ganzen Schlamassel hineingezogen worden war! Sie war diejenige, die - schon zum zweiten Mal! - auf der Flucht war. Auf der Flucht vor irgendwelchen verrückten, messerwetzenden Halunken, die sie ermorden wollten! Ihre einziger Fehler war, dass sie diesem undankbaren Kerl hatte helfen wollen!

Nachdem sie sich so in Rage gedacht hatte, fuhr Nell ihn unversehens an: »Wie kannst du es wagen! Wie kannst du es wagen, mich um Hilfe zu bitten und mich in Lebensgefahr zu bringen, um mich dann einfach so zu ignorieren? Du schuldest mir eine Erklärung!«

Als er sie nun ansah, war der Ausdruck in seinen Augen derart gequält, dass Nell erschrak. Da wandte er den Kopf rasch wieder ab, aber Nell konnte das Zucken seines Wangenmuskels sehen, das ihr verriet, wie viel Selbstbeherrschung er aufbieten musste, um seine Gefühle zu verbergen.

»Verzeih mir, Nell«, sagte er mit einer Stimme, der man es anmerkte, wie wütend er auf sich selbst war. Nells Zorn schwand. »Ich hätte dich nie in diese Sache hineinziehen dürfen, es war egoistisch von mir. Ich habe nur an die Kinder gedacht. Dabei hätte ich wissen müssen, was das für dich bedeutet. Ich war arrogant. Ein arroganter Narr.«

Nell wandte das Gesicht von ihm ab, starrte wie benommen nach vorne. Sie wusste nicht mehr, was sie fühlen sollte. Sie hatte in den letzten paar Stunden einen wahren Gefühlssturm erlebt: Erleichterung, Bedauern, Angst, Panik, Wut und jetzt ... jetzt wusste sie nicht mehr weiter. Am liebsten hätte sie sich abgeschottet, zugemacht, nichts mehr gefühlt, nur eine Zeitlang, um ihren strapazierten Nerven ein wenig Erholung zu gönnen.

»Hör auf damit. Du liebst die Kinder, daran ist nichts Falsches oder Arrogantes ... Tut mir leid, dass ich so ausfallend geworden bin. Ich ... Es war kein leichter Vormittag.« Mikhail stieß ein seltsam hohles Lachen aus. »Du hast ein viel zu gutes Herz, Nell. Und leider werde ich deine Gutmütigkeit und Freundlichkeit noch ein wenig mehr ausnützen müssen.«

Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Nell runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Die Männer, die hinter uns her sind, werden nicht aufgeben, Nell. Sie wollen die Kinder töten und dabei werden sie jeden beseitigen, der sich ihnen in den Weg stellt.«

Mikhail schaute sie durchdringend an, als wolle er ihr mehr als das, was er gerade gesagt hatte, begreiflich machen.

»Sie sind zum Cottage gekommen. Sie sind in dein Dorf gekommen, in dein Heim eingedrungen ... Sie wissen, wer du bist, Nell. Selbst wenn wir uns trennen würden - sie sind jetzt auch hinter dir her.«

Selbst wenn wir uns trennen würden. Es war ein Schock für Nell festzustellen, dass sie eine Trennung von ihm und Jen Kindern überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte. Er dagegen schon, wie es schien. Aber, wie er soeben erklärt hatte, diese Möglichkeit bestand nun ohnehin nicht mehr. Der Teufel musste ihr wohl einen Streich spielen, denn sie war erleichtert. Erleichtert, dass sie diese verrückten Attentäter nicht loswerden, sich nicht von den Kindern -und von Mikhail! - würde trennen müssen. Wer war hier eigendlich der Verrückte?

»Nell? Begreifst du, was ich damit sagen will?«

Sie ignorierte die Frage. Es störte sie, dass er ihrer ersten Frage auswich. Also stellte sie sie erneut: »Wohin fahren wir?«

Nell schwante nichts Gutes, als sie merkte, wie er sich bei dieser Frage versteifte.

»Nach Shelton Hall, dem Landsitz meiner Familie. Aber zuerst werden wir an der nächsten Poststation den Karren gegen Reitpferde eintauschen.«

Nell wartete darauf, dass er weitersprach, aber er schwieg.

»Also gut, das klingt vernünftig. Wie weit ist es nach Shelton Hall?« Nell wusste selbst nicht, wieso sie sich immer noch so unbehaglich fühlte.

»Etwa zwei Tagesritte.«

Wieder so eine kurze, fast rüde Antwort. Was war los mit ihm?

»Das klingt ganz harmlos. Wieso habe ich dann trotzdem das Gefühl, dass du mir was verschweigst? Machst du dir Sorgen, dass sie uns folgen könnten?«

Mikhail schaute sie grimmig an. »Ich hoffe es sogar.«

»Du hoffst, dass sie uns verfolgen?«

Die Ereignisse dieses Tages schienen ihm mehr zugesetzt zu haben, als sie gedacht hatte, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wieso er so etwas wünschen sollte.

»Euch werden sie nicht finden, Nell. Du und die Kinder, ihr werdet längst fort sein.«

»Längst fort sein ...«, wiederholte sie wie betäubt.

»Wenn wir auf Shelton angekommen sind, werdet ihr, du und Morag, die Kinder nehmen und nach London Weiterreisen.«

Nach London? Nell ging plötzlich ein Licht auf.

»Nein!«, rief sie erregt. »Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Du wirst uns nicht verlassen, du wirst nicht zurückbleiben! Bei den Elefanten des Maharadschas, Mikhail, du hast vor, dich ihnen zu stellen, nicht wahr?«

Der Karren ratterte um eine Kurve, und vor ihnen tauchte eine Postkutschenstation auf.

»Ich muss sie aufhalten, Nell. Wir haben einen kleinen Vorsprung, aber sie werden uns früher oder später einholen. Wahrscheinlich haben sie bereits jemanden in der Gegend um Shelton Hall postiert, der das Anwesen beobachtet. Ich kann nicht riskieren, dass sie uns einen Hinterhalt legen, solange die Kinder noch bei uns sind.«

»Dann vergiss Shelton Hall! Komm sofort mit uns nach London!«

»Genau das werden sie erwarten. Ich kann nicht riskieren, dass sie uns einholen. Ich habe ja nicht einmal ein Messer, um uns zu verteidigen! Ich bin vollkommen unbewaffnet- Nein, wir fahren nach Shelton Hall, Nell. Wir werden ihnen vormachen, dass wir alle dort sind. Das Personal ist äußerst loyal, die meisten stehen schon ein Leben lang im Dienst meiner Familie. Sie werden uns helfen. Du und Morag, ihr verkleidet euch als Dienstmägde und schmuggelt die Kinder aus dem Haus. Das sollte nicht allzu schwer werden: die kleine Katja in einem Einkaufskorb, Mitja unter einem Mantel oder etwas Ähnlichem. Ich habe zwei Tage Zeit, um mir alles genau zu überlegen. Es wird klappen. Es muss.«

Er klang vollkommen überzeugt, und Nell glaubte ihm. Es war kein schlechter Plan, aber begeistert war sie nicht'. Er wollte zurückbleiben und sich den mörderischen Attentätern stellen!

Sie hatten die Poststation nun beinahe erreicht. Schon bald würden sie den Eselskarren gegen Pferde eintauschen und nach Shelton Hall weiterreiten. Nell bekam einen Anflug von Panik. »Aber wie willst du mit drei bewaffneten Männern fertig werden?«

»Ich werde nicht allein sein, Nell. Es gibt jede Menge fähiger Männer auf Shelton Hall, die mir beistehen werden.« Mikhail lächelte sie an, aber das konnte ihre Ängste nicht beschwichtigen. Wenn Mikhail sich und seiner Männer so sicher war, warum schickte er sie und die Kinder dann weg?

»Und wohin sollen wir?«

»Ihr fahrt zum Haus meiner Schwester. Ihr Mann wird euch beschützen.«

»Ich verstehe ...« Und das tat sie. Er wollte sein Leben fur sie und die Kinder riskieren, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen. Und es gab nichts, das sie sagen konnte, um ihn umzustimmen. Sie versuchte eine andere Taktik. »Und was ist, wenn wir es nicht bis London schaffen? Wenn sie nicht auf den Schwindel hereinfallen? Wäre es nicht sicherer für uns, bei dir zu bleiben?«

Mikhail zog an den Zügeln, brachte den Karren vor der Poststation zum Halten. Dann schaute er sie an.

»Ihr werdet London wohlbehalten erreichen, Nell.«

Er legte seine Hand an ihre Wange und Nell zuckte ein wenig zusammen. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie legte ihre Hand auf die seine und schloss kurz die Augen.

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Ich bin mir sicher, Nell, weil ich weiß, wie klug und tapfer du bist.« Er legte den Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. In seinen blauen Augen stand keinerlei Anschuldigung, keinerlei Vorwurf. Mit einem Ausdruck von Dankbarkeit flüsterte er: »Und weil du ein Talent hast, das es dir ermöglicht, Dinge zu sehen, bevor sie geschehen.«

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